Donnerstag, 4. Juli 2013

Wutbürger Reloaded - "Wer ist denn hier Wutbürger???"


"Wer ist denn hier Wutbürger...? Ist doch langweilig. Wutbürger ist voll langweilig!
Wut bringt auch nix. Wut steht auf der Stelle. Wut kriegt heiße Muskeln, Schaum vorm Mund und stampft auf und läuft heiß. Bringt aber nix.


Das ist ein super Label, um so ein Volk ruhig zu halten. Einfach sich als Wutbürger benennen, ein bisschen tätscheln und die Türe zumachen."


"Die Wut muss erst in den Schmerz transformiert werden, damit sich was bewegt, damit irgendwas voran geht. Wut bringt nix."


(Hagen Rether)

Diesen Text habe ich in meinem Post am Montag schon untergebracht, als ich der Duden-Redaktion zur Aufnahme neuer Worte in die am 4. Juli 2013 erscheinende neue Ausgabe gratulierte.

Der Duden definiert "Wutbürger" nunmehr so:

Wutbürger
Substantiv, maskulin - aus Enttäuschung über bestimmte politische Entscheidungen sehr heftig öffentlich protestierender und demonstrierender Bürger.


Hagen Rether hat völlig recht, wenn er sagt, dass das Wort "Wutbürger" nichts anderes als ein Label, eine Kennzeichnung ist, mit der Protest entwertet wird. Die Menschen, die "sehr heftig öffentlich" protestieren, werden damit bequem in eine Schublade gepackt, die dann von den Oberen und Mainstream-Medien leise und unauffällig geschlossen werden kann. Abwinken und Abwiegeln mit der Bemerkung "Sind doch bloß Wutbürger..." passt dann prima ins Kalkül.

Die Menschen, die sich engagieren, die sich für ihre Überzeugung auch der Gefahr für Leib und Leben aussetzen und sehr oft unter den Repressalien und der blutigen Gewalt durch die Ordnungsmächte leiden, Verletzungen davontragen oder im extremen Fall sogar ihr Leben verlieren, sind doch nicht einfach nur wütend...

Wütend ist das kleine Kind, das sich an der Supermarktkasse brüllend auf den Boden schmeißt, weil Mama ihm nicht die Süßigkeit aus der Kinderfalle geben will, die so kindgerecht und mütterungerecht in Griffhöhe hängt. Wütend ist der Stammtischsäufer, der lauthals und mit steigendem Alkoholpegel vehementer werdend die Hetzparolen aus den Schlagzeilen der Blut-und Hoden-Presse (auch "Bild-Zeitung" genannt) rezitiert. Wütend ist der Autofahrer, der wieder mal berufspendelnd im Stau steht und laut "Scheiße!!" ruft, während er auf den Lenkradkranz einschlägt.

Allen Beispielen gemeinsam ist: Stillstand - "Wut steht auf der Stelle" (siehe oben).

Dieser Charakterisierung nun folgend, sind auch die Menschen, die bei Gewalttaten daneben stehen und applaudieren, johlen oder die Gewalttäter anfeuern, nichts anderes als Wutbürger. Sie machen ihrer Wut, angestachelt durch die Hetzparolen der Schmierfinken aus dem Hause Springer und Konsorten, durch Begeisterung Luft, während ein moralisch verwahrloster Mob aus Nazis und Gewalttätern ein Asylantenheim belagert, in Brand steckt und den Tod der Insassen billigend in Kauf nimmt... so geschehen in Rostock-Lichtenhagen, im August 1992.

Und auch so sieht dann ein deutscher Wutbürger aus:


Mit alkoholverglastem Blick, vollgepisster Jogginghose, billigem Fußballhemd, dem deutschen Nationaltrikot nachempfunden und den Arm zum Hitlerguß erhoben... so steht er da, der Wutbürger. Als "Grüßer von Rostock" traurig berühmt geworden, zementierte diese Jammergestalt das Bild des "häßlichen Deutschen" im In- und Ausland.

Und was machten die Oberen in Folge dieses Pogroms und anderer fremdenfeindlicher Gewalttaten und Morde? Sie schafften de facto das Asylrecht ab, indem sie genug Notausgänge in den Artikel 16 GG einbauten, die es erlauben, fast alle Asylanträge abzulehnen. Herzlichen Glückwunsch! Seit 2002 liegt die Anerkennungsquote von Asylanträgen nach dem neuen Art. 16a GG bei unter 2 %. Das ist das Verdienst der "Wutbürger", die in ihrer Funktion als Medienvertreter mit Schlagzeilen über "Asylbetrüger" und "Das Boot ist voll" genau den Brandbeschleuniger lieferten, mit dem die schon genannten moralisch verwahrlosten Schläger, Brandstifter und Mörder Häuser samt Insassen anzündeten, Menschen verprügeln und töten.

Da möchten doch die anderen Menschen, die sich engagieren, die zu Recht aufbegehren und die gegen den Blödsinn der Herrschenden protestieren, bestimmt gern "Wutbürger" genannt werden, oder? Wohl eher nicht.


Hier einige bekannte Beispiele für Protest, der mit diesem Duden-amtlichen Begriff nun bequem in der Schublade landen und dem Vergessen anheim fallen darf, wenn es nach den Oberen geht:

Stuttgart 21 - "Oben bleiben!"

Dieser Protest gegen Verschwendung von öffentlichen Geldern, stadt- und verkehrsplanerischem Unsinn und das Verschwinden von notwendigen Grünflächen im städtischen Raum wurde zum Auslöser der Berichterstattung über sogenannte "Wutbürger", weil hier eben nicht die als "typisch" bekannten Protestler und Aktivisten in der ersten Reihe standen, sondern Großstadtbewohner, die nicht dem typischen Bild des deutschen Bürgers entsprechen, das Deutschland im europäischen Umland derzeit so beliebt macht: "Die sind nämlich fleißig, lieben ihre Oberen und halten das Maul" (aus: TITANIC, Nr. 7/2013, "Mutti herrscht im Schlafgewand" von Stefan Gärtner).

Diese Menschen sind keine "Wutbürger" und verdienen es gewiß nicht, dass ihr Engagement mit diesem Modewort degradiert wird. Wie kaum ein anderes Bild verdeutlicht die Verletzung des Rentners Dietrich Wagner, der in Folge eines unangemessenen Wasserwerferangriffs der Polizei bei der Räumung des Schlossgartens am 30. September 2010 sein Augenlicht einbüßte, wie ohnmächtig der Staat in seinen Reaktionen ist, wenn seine "normalen" Bürger eben nicht dem typischen Verhalten der Deutschen folgen und eben nicht die Oberen lieben und das Maul halten. Die Ohnmacht liegt darin, einfach draufzuknüppeln und Menschen zu verletzen, anstatt den notwendigen Dialog zu suchen.

Es fand zwar ein Dialog statt und ein Heiner Geißler (vom Saulus zum Paulus geworden - vom Ex-General der CDU zum Attac-Aktivisten) konnte medienwirksam dem Mittler mimen, aber schlussendlich ging dieser Dialog einen leider inzwischen typisch deutschen politischen Weg: er führte zu nichts.


Der Protest, der unverhältnismäßige Einsatz gegen die Demonstranten und die Medienreaktionen waren mit ausschlaggebend dafür, dass der damalige CDU-Ministerpräsident Mappus (verdientermaßen!) sein Amt verlor.


Tahrir-Platz, Kairo, Ägypten

Diese Proteste sind es, vor denen eine deutsche Regierung Angst haben muss. Ein Volk, das gegen den regierenden Despoten (Hosni Mubarak) aufbegehrte, für demokratische Wahlen sorgte und nach einem Jahr unter dem neuen Präsidenten Mohammed Mursi feststellte, dass dieser so regiert, wie wir es oft von unseren Bundesregierungen kennen: alle vier jahre darf der Bürger wählen, wer ihn verarscht. Das heißt dann "demokratische Legitimation".

Dieser Protest war erfolgreich, nachdem das ägyptische Militär am Mittwochabend den Präsidenten entmachtete, den Präsidenten des Verfassungsgerichts, Adli Mansur, als Interimsstaatschef einsetzte und Neuwahlen und die Aussetzung der islamistisch geprägten Staatsverfassung noch in diesem Jahr ankündigte. Also: Demokratie reloaded.

Jubel auf dem Tahrir-Platz nach Bekanntwerden der Entmachtung von Präsident Mursi - Quelle: Reuters
Bericht der taz über die Entmachtung: http://www.taz.de/Staatskrise-in-Aegypten/!119262/


Pussy Riot

Nun, es mag sein, dass der Trugschluss besteht, dass Punk wütend ist. Nein, ist er nicht. Punk klingt und handelt offensiv, aggressiv und mit Leidenschaft. Aber Punk steht nicht auf der Stelle. Daher ist er auch nicht wütend (siehe oben, Stichwort "Stillstand").

Und die mutigen Frauen, die es wagen, gegen den "lupenreinen Demokraten" Vladimir Putin und seine zarenhafte Despotie aufzubegehren, verdienen es gewiß nicht, in die Schublade mit der Aufschrift "Wutbürger" gesteckt und vergessen zu werden.

Das "Punk-Gebet" gegen Putin

Nadeschda Tolokonnikowa, Jekaterina Samuzewitsch, Marija Aljochina (von links nach rechts) auf der Anklagebank des Gerichts, das sie zu Lagerhaft verurteilte.

Da das Volk in Russland durch die Oberen klein gehalten und Vladimir Putin leider immer noch von genügend Sympathisanten unter der Bevölkerung und auch der russisch-orthodoxen Kirche gefördert und gefeiert wird, wird wohl dieser Protest nicht zu dem Erfolg führen, den die Ägypter verzeichnen können. Aber: es ist nicht mehr möglich, die internationale Unterstützung der nach wie vor aktiven Künstlerinnengruppe Pussy Riot zu stoppen. Auch die Häme hat Putin nun verdient und für immer auf sich gezogen... mehr noch als zu Zeiten seiner machohaften Oben-ohne-Fotos.



Brasilien - Soziale Proteste gegen Misswirtschaft, Verschwendung, Korruption...

...und die vergessenen Ureinwohner am Rio Xingu

So wichtig und richtig die sozialen Proteste gegen die Geldverbrennung durch repräsentative Sportprojekte (FIFA-WM 2014) in Brasilien auch sind und so gerechtfertigt der Ruf nach Ausgaben in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Soziales sind, so sehr rücken Probleme, die ebenfalls protestwürdig sind, in den Hintergrund.

Die Belange und Probleme der schwarzen Bewohnerinnen und Bewohner der Favelas beginnen jetzt gerade langsam ins Blickfeld zu geraten, nachdem sie von den bisherigen Demonstrationen nicht thematisiert wurden.

Währenddessen stemmen sich weiterhin die Ureinwohner am Xingu-Fluss gegen das Staudammprojekt Belo Monte, das durch die Rodung und geplante Überflutung riesenhafter Regenwaldflächen Öközid mit weltweiten Folgen für Klima und Wetter und in Konsequenz Völkermord bedeutet. Es ist ein Kampf David gegen Goliath, bei dem die indigenen Völker zu Recht protestieren, da mit dem Bauprojekt geltendes Recht verletzt wurde. Die Belange indigener Völker müssen in Brasilien bei Bauprojekten in ihrem Lebensraum angehört und berücksichtigt werden. Dies fand nicht statt. Auch deutsche Firmen, allen voran Voith Hydro und Siemens, sind am Wachstums- und Gewinnplan durch umweltzerstörende Kraftwerksbauten beteiligt, die von der Präsidentin Dilma Roussef ohne Rücksicht auf Verluste durchgezogen werden. Die deutschen Konzerne berufen sich dabei auf die "Rechtsstaatlichkeit der brasilianischen Regierung". Na klar doch.

http://www.3sat.de/mediathek/index.php?display=1&mode=play&obj=36886

Der Protest ist international und auch in den Medien präsent. Prominenteste Unterstützer waren gewiß James Cameron und Sigourney Weaver (Regisseur und Darstellerin im Film "Avatar"), die die Ureinwohner besuchten und im westlichen Ausland ihren Kampf bekannt machten.

YouTube-Video: James Cameron besucht mit Amazon Watch die Ureinwohner am Xingu-Fluss

YouTube-Video: Defending the Rivers of the Amazon, with Sigourney Weaver

Allerdings rückt dieser Kampf gegen das undemokratische und rechtswidrige Vorgehen der brasilianischen Präsidentin Roussef, die Gerichtsbeschlüsse zum Baustopp des Damms durch ihr Veto davonfegt, aktuell in den Hintergrund.

Wutbürger? Nun, die urbane Bevölkerung Brasiliens hat es geschafft, ihre Wut zu Schmerz zu transformieren, der gefühlt wird und dann etwas bewegt (nach Rether'scher Definition). Damit sind die Bürger Brasiliens erfolgreich aus der Wutbürger-Schublade herausgehüpft. Aber die Ureinwohner am Rio Xingu sind alles andere als Wutbürger. Dies sind Menschen, die um ihr Leben kämpfen.




Alle die Menschen, die aufbegehren und protestieren, die anprangern und sich engagieren, die auf die Straße gehen und ihr Gesicht und ihren Leib in die Schusslinie bringen, haben es nicht verdient, als "Wutbürger" verharmlost und in die Schublade des Vergessens gepackt zu werden.

Vielleicht ist es an der Zeit, vor dem Gebäude des Dudenverlags (Mecklenburgische Str. 53, 14197 Berlin - Quelle: Impressum der Duden-Website) gegen die lexikalische Legitimierung eines Modeworts zu demonstrieren. Mal sehen, wie lange es dann dauert, bis jemand versucht, auch diese Demonstranten zu "Wutbürgern" zu degradieren.

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